Cultural Theory Grid-Group Paradigma

 

In ihrem viel zitierten Aufsatz "Cultural Bias formuliert Mary Douglas (1978) einen Erklärungsansatz, nach dem Überzeugungen und Werthaltungen, d.h. die "Weltsicht" oder "Kosmologie", maßgeblich durch den sozialen Kontext geprägt wird. Grundannahme dieser Erklärung ist, dass Menschen danach streben, den Widerspruch zwischen ihren Überzeugungen und ihren Werthaltungen sowie dem sozialen Kontext zu minimieren. Dadurch werden vorteilhafte Handlungen mit eigenen Überzeugungen bzw. Werthaltungen in Übereinstimmung gebracht. Sie lassen sich durch die Weltsicht "rechtfertigen".

Von dieser Idee ausgehend identifiziert Douglas zwei Faktoren (Abbildung 1), die die Einstellungen, Wahrnehmungen, Entscheidungen und damit das freie Handeln der Menschen einschränken. Sie bezeichnet sie als als Grid- und Group-Dimension. Die Group-Dimension erfasst das Ausmaß der "sozialen Inkorporation", das heißt wie stark ein Individuum in Gruppen integriert ist  (Thompson, Ellis & Wildavsky, 1990, S. 5). Je größer die Inkorporation ist, desto wirksamer werden individuelle Entscheidungen durch Gruppenerfordernissen eingeschränkt: "The further one moves along the group dimension, the tighter the control over admission into the group and the higher the boundaries separating members from nonmembers" (Thompson et al., 1990, S.  6). Die Grid-Dimension soll berücksichtigen, dass Menschen in Form von Verhaltensregeln, Rollenvorschriften oder Positionierungen externen Zwängen unterworfen sind - Zwängen, die sich aus dem Hierarchiegefüge eines Sozialaufbaus und den damit verbundenen Regulationen ergeben und die das freie Handeln und damit auch inter-individuelle Aushandlungen einschränken (Douglas & Wildavsky, 1993). Douglas umreißt vier Weltsichten, die den vier möglichen Kombinationen der möglichen Grid- und Group-Ausprägung korrespondieren.

 

Abbildung 1. Denkstile der Gerechtigkeit

 

Hierarchisten: Bei deutlicher Einbindung in Gruppenzusammenhänge und in einer extrem hierarchischen Gesellschaft finden Menschen es "natürlich", in geschlossenen Gruppen zu leben und den Normen dieser Gruppe unterworfen zu sein. Insbesondere sind sie es gewohnt, dass soziale Regeln mit der Position in der Gesellschaft verknüpft sind und diese Position durch Zuschreibung vergeben wird. "Individuen (…..) stehen in Über- oder Unterordnungsverhältnissen unter der Kontrolle durch andere Gruppenmitglieder und sind ausgeprägten Rollenerwartungen ausgesetzt. (…..) Illustrationen dieses sozialen Kontexts sind der Typ des Bürokraten oder Patriarchen, aber auch stark gegliederte Gesellschaftsformen" (Plapp, 2003, S. 35-36).

 

Enklavisten: Eine intensive Einbindung in Gruppenzusammenhänge bei geringer hierarchischer Ordnung bringt egalitäre soziale Beziehungen und eine egalitäre Weltsicht hervor. Mitglieder solcher Gruppenzusammenhänge finden es richtig, Gruppensolidarität auszuüben sowie Nicht-Dazugehörigen fraglos von ihr auszuschließen. Gleichzeitig lehnen sie es ab, den Inhabern von hierarchischen Positionen besondere Rechte einzuräumen. Rollen und Positionen fehlen daher in der egalitaristischen Weltsicht und sind immer wieder Gegenstand von Auseinandersetzungen (vgl. Rayner, 1992, S. 89).

 

Individualisten: Eine individualistische Weltsicht ist da vertretbar, wo weder hierarchischer Zwang noch Gruppendruck das Handeln beeinflusst und die Menschen weitgehend selbst verantwortlich handeln können (Thompson et al., 1990, S. 7). Weder Verhaltensregeln und Rollenerwartungen noch Gruppenzusammenhänge sind vordefiniert und müssen daher immer wieder neu festgelegt werden. Um ihre Freiheit zu sichern, zählen Individualisten höchstens auf lose Netzwerke und sanktionieren Angriffe auf die individuelle Freiheit (Plapp, 2003, S. 36). Als Prototyp für die individualistische Weltsicht kann der unabhängige, pragmatische, materialistische Fabrikant angesehen werden (Thompson et al., 1990, S. 7-8).

 

Isolierte: Wer hingegen Rollen- und Positionszuweisungen oder restriktiven Normen ausgesetzt ist, ohne sich auf eine Gruppe und deren Solidarität beziehen zu können, wird in seinen Handlungen von außen und damit von einer kaum überwindbaren Instanz kontrolliert (Thompson et al., 1990, S. 7). Dementsprechend tendiert er zu einer fatalistischen Weltsicht. Thompson et al. (1990, S. 8-9) veranschaulichen diesen Typen anhand des Arbeiters, der keine Interessenvertretung besitzt, der ausgebeutet wird und dem sein Leben eher als Glückssache denn als selbstbestimmt erscheint.

 

Die vier Weltsichten "können sich auf alle denkbaren Sphären unseres Lebens beziehen, indem sie die Präferenzen determinieren, die unser Handeln bestimmen. Für das Zusammenleben besonders wichtig sind Präferenzen, die sich auf die Frage richten, wem Verantwortung zugerechnet wird und wer was bekommt. Das ist die Frage nach der distributiven sozialen Gerechtigkeit" (Wegener, 1999, S. 195, Hervorhebung im Original) und der Anknüpfungspunkt für die empirische Gerechtigkeitsforschung.