Jugend und Gewalt

 

Die Beschreibung und Erklärung von Jugendgewalt auf der Basis von Lebensstilen als sozialstrukturellen Gruppierungskategorien folgt der Auffassung, dass es seit den 60er Jahren einen enormen sozialen Modernisierungsschub in der Bundesrepublik Deutschland gegeben hat (Georg 1993; Heitmeyer u.a. 1995, S. 33). Unter den allgemeinen Trends der Modernisierung[1] sind hier insbesondere die Erhöhung der Lebenschancen als die "Chancen auf die Verwirklichung von Lebenszielen, die in einer Gesellschaft im allgemeinen als erstrebenswert angesehen werden" (Geißler, 1994, S. 4) und den damit einhergehenden verbesserten Rahmenbedingungen zur individuellen Gestaltung und Stilisierung der Lebensführung zu verstehen. Die Erhöhung der Lebenschancen resultiert aus einem sozialstrukturellen Wandel, d.h. konkret: aus der Zunahme an "freier" Zeit, aus der deutlichen Erhöhung des materiellen Lebensstandards, aus dem gestiegenen Einkommen, aus der Bildungsexpansion und der gestiegenen Mobilität. Eine prominente Interpretation heutigen sozialen Wandels als Tendenz zu einer größeren Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen findet sich in der Individualisierungsthese von Beck (1986, S. 122). Individualisierung bezeichnet nach Beck "bestimmte subjektiv-biographische Aspekte des Zivilisationsprozesses (im Sinne von Elias), insbesondere in der letzten Stufe von Industrialisierung und Modernisierung" (Beck, 1986, S. 206). Damit ist die Individualisierung als ein Aspekt des sozialen Wandels auch keine exklusive Erscheinung sozialer Realität in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts und wird von Beck anhand von drei Bedeutungsmerkmalen erläutert: "Herauslösung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und -bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhänge (»Freisetzungsdimension«), Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (»Entzauberungsdimension«) und - womit die Bedeutung des Begriffs gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird - eine neue Art der sozialen Einbindung (»Kontroll- bzw. Integrationsdimension«)" (Beck, 1986, S. 206). Betont werden somit die soziologischen Aspekte der Individualisierung, d.h. die Veränderungen bezüglich der objektiven Lebenslagen und der daraus resultierenden Konsequenzen für Lebensführung und Biographie. Individualisierung bedeutet demnach, "dass die Biographie der Menschen aus vorgegebenen Fixierungen herausgelöst, offen, entscheidungsabhängig und als Aufgabe in das individuelle Handeln jedes einzelnen gelegt wird. Die Anteile der prinzipiell entscheidungsverschlossenen Lebensmöglichkeiten nehmen ab und die Anteile der entscheidungsoffenen, selbst herzustellenden Biographie nehmen zu. Individualisierung von Lebensläufen heißt also hier, dass Biographien 'selbstreflexiv' werden: Die sozial vorgegebene Biographie wird in eine selbst hergestellte und herzustellende transformiert, und zwar so, dass der einzelne selbst zum 'Gestalter seines eigenen Lebens' wird, und damit auch zum 'Auslöffler der Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat'" (Beck, 1983, S. 58). Bevor auf die Konsequenzen des sozialstrukturellen Wandels infolge der beschleunigten Modernisierung und der damit einhergehenden Individualisierung von Lebenslagen eingegangen wird, die sich wiederum in einer Pluralisierung und Diversifizierung von Lebensstilen äußern, sollen zunächst die grundlegenden Tendenzen sozialstrukturellen Wandels näher bezeichnet werden. Wichtige Aspekte des sozialstrukturellen Wandels in der Bundesrepublik seit den 60er Jahren sind der enorme Anstieg des materiellen Lebensstandards, der gestiegene Anteil an "freier", d.h. durch Erwerbsarbeit ungebundener Zeit, die sogenannte Bildungsexpansion und der Zuwachs an sozialer und regionaler Mobilität.

Im Zusammenhang mit den hier dokumentierten Instrumenten wird Gewalt eher eng gefasst. Sie wird definiert als eine destruktive physische Handlung gegenüber Personen oder Sachen, die gegen den Willen der Betroffenen erfolgt. Die hier untersuchten gewaltbefürwortenden Einstellungen und gewaltförmigen Verhaltensweisen von Jugendlichen werden dieser Definition entsprechend auf körperliche Gewalt hin operationalisiert. Diese Einschränkung erfolgt aus forschungsökonomischen Gründen und mit dem Ziel, die Anzahl der durch Lebensstile zu erklärenden Gewaltaspekte auf einen wichtigen Kernbereich von Jugendgewalt zu begrenzen. Die Beschränkung bringt es mit sich, dass beispielsweise Formen psychischer oder autoaggressiver Gewalt im Rahmen dieser Arbeit  nicht thematisiert werden können. Durch die Erfassung von machiavellistischen, autoritären sowie law-and-order-Orientierungen werden ferner Einstellungen der Jugendlichen erfasst, die im "Vorfeld" gewaltbefürwortender Einstellungen und gewaltförmigen Verhaltens verortbar sind und als gewaltaffine Einstellungen bezeichnet werden.

Es ist genauer ausgeführt, was unter den drei Aspekten verstanden wird.

1.     Gewaltförmiges Verhalten: Mit dem gewaltförmigen Verhalten ist der Kernbereich des hier verwendeten Gewaltbegriffs thematisiert. Es handelt sich dabei um manifest gewordene Gewalthandlungen gegenüber Personen oder Sachen. Unter Gewalthandlungen gegen Personen sind Körperverletzung, Raub sowie Androhung von körperlicher Gewalt zur Erzwingung eines Verhaltens zu fassen. Werden Personen absichtlich geschlagen oder gegen deren Einverständnis körperlich verletzt, ist von einer gewaltförmigen Handlung im Sinne einer Körperverletzung zu sprechen. Von Raub kann dann die Rede sein, wenn einer Person unter Androhung oder Ausübung körperlicher Gewalt Sachgegenstände weggenommen werden. Die Drohung mit körperlicher Gewalt, um eine andere Person zu einer Handlung zu zwingen, die diese nicht ausüben will, soll ebenfalls unter den Begriff des gewaltförmigen Verhaltens gefasst werden.Unter Gewalt gegen Sachen werden alle gewaltförmigen Verhaltensweisen mit dem Ziel ihrer Zerstörung gefasst, bei denen es also nicht zu einer direkten Gewaltanwendung gegenüber Personen kommt. In diesem Sinne sind Vandalismus oder unter Gewaltanwendung ausgeführte Eigentumsdelikte (Einbruch in ein Gebäude, in ein Auto oder das Knacken eines Automaten) zu verstehen.

2.     Gewaltbefürwortende Einstellungen: Der Begriff der gewaltbefürwortenden Einstellung orientiert sich am hier zugrunde gelegten Gewaltbegriff. Gewaltbefürwortend ist eine Einstellung dann, wenn physische Gewalt gutgeheißen oder als Normalität im Umgang von Menschen erachtet wird, wenn der Versuch unternommen wird, Gewalt zu legitimieren, oder wenn eine Bereitschaft zu eigenem gewaltförmigem Verhalten bekundet wird. Gewaltbefürwortende Einstellungen werden in der empirischen Operationalisierung über Items gemessen, in denen körperliche Gewalt direkt thematisiert und eine diesbezügliche Einstellung erfasst wird. Als Beispiele seien folgende Items genannt: "Ich bin in bestimmten Situationen durchaus bereit, auch körperliche Gewalt anzuwenden, um meine Interessen durchzusetzen" oder "Ich würde selbst nie körperliche Gewalt anwenden, aber ich finde es gut, wenn es Leute gibt, die auf diese Weise für Ordnung sorgen".

3.     Gewaltaffine Einstellungen: Unter gewaltaffinen Einstellungen werden hier solche verstanden, die situationsabhängig eine Entwicklung zur Gewaltbefürwortung und zu gewaltförmigem Verhalten begünstigen können. Im Folgenden werden Machiavellismus, Autoritarismus und law-and-order-Orientierungen als gewaltaffine Einstellungen betrachtet, deren Messung in Anlehnung an etablierte Skalen erfolgt.

 

Entstehungsgeschichte und institutioneller Rahmen der Untersuchung

Im Projekt "Jugend und Gewalt" wurde zunächst bis 1994 mit einem Milieukonzept zum Zwecke der Segmentierung der Stichproben großer quantitativer Erhebungen gearbeitet. Das vom Heidelberger SINUS-Institut entwickelte Milieukonzept beansprucht, die Lebenswelten der bundesrepublikanischen Bevölkerung ab 14 Jahren abbilden zu können, wobei die Zuordnung von Personen zu den Milieus in quantitativen Untersuchungen anhand von Werteinstellungen erfolgt, die über Ähnlichkeitskriterien bezüglich ihrer Werteprofile mit den Profilen der Milieus verglichen werden.

In der 1994 beantragten neuen SFB-Förderphase des Projekts "Jugend und Gewalt" wollte man die Erklärungskraft des Milieukonzepts bezüglich Jugendgewalt durch ein Lebensstilkonzept ergänzen, das auf Aspekten konkreten Verhaltens von Jugendlichen aufbaut. Aus diesem Grunde ist im Januar und Februar 1994 die Vorstudie "Lebensstile Jugendlicher und Gewalt" durchgeführt worden, der bisher aus finanziellen Gründen noch keine Hauptuntersuchung mit einer größeren Fallzahl und optimierten Instrumenten folgen konnte. Es ergibt sich daraus die Situation, dass eine als "Vorstudie" geplante Untersuchung daraufhin zu prüfen ist, ob sie auch für sich allein stehen kann und neben der Instrumententestung substantielle Analysen zum Untersuchungsgebiet Jugendgewalt zulässt. Diese Bedingungen wurden erfüllt (vgl. Ulbrich-Herrmann, Abschnitt 4.1.3), so dass die Frage beantwortbar ist, wie hoch der Erklärungswert der gefundenen Lebensstiltypologie zur Erklärung von gewaltbefürwortenden Einstellungen und Gewaltverhalten bei Jugendlichen ausfällt (vgl. Ulbrich-Herrmann, Abschnitt 4.7.1).



[1] Aspekte des Modernisierungsprozesses sind "Rationalisierung, Säkularisierung, ein sich selbst tragendes wirtschaftliches Wachstum, Urbanisierung bzw. Verstädterung, Infrastruktur, Steigerung der sozialen Mobilität, Massenwohlstand, Demokratisierung, pluralistisches System der Parteien und Interessenverbände, Bürokratisierung, Ausweitung der Dienstleistungen (tertiärer Sektor), Steigerung der gesamtgesellschaftlichen Anpassungs- und Steuerungsfähigkeit, der individuellen Leistungs- und Kooperationsfähigkeit, neue Sozialformen, größere Vielfalt der Lebensstile" (Stichwort "Modernisierung" in Hartfiel & Hillmann, 1982, S. 511. Anmerkung: Abkürzungen im Zitat wurden vom Autor ausgeschrieben). Wenn hier von einem Modernisierungsschub gesprochen wird, dann soll darauf verwiesen werden, dass der Prozess der Modernisierung kein neues Phänomen ist, sondern eine Beschleunigung dieses Prozesses seit den 60er Jahren dieses Jahrhunderts zu verzeichnen ist. So setzte beispielsweise der "Trend zur wohlfahrts- und sozialstaatlichen Absicherung der Daseinsbedingungen und Lebensrisiken (Invalidität und Arbeitslosigkeit; Gesundheitsvorsorge und Alterssicherung; Bildung/ Ausbildung und Freizeitgestaltung)" (Schäfers, 1995, S. 10) bereits im 19. Jahrhundert ein.