Das Geschlecht der Befragungsperson ist, zusammen mit dem Lebensalter, die wichtigste soziodemographische Hintergrundvariable, die in allen Studien erfasst wird. In der deutschsprachigen Umfrageforschung wurde das Geschlecht bis vor einigen Jahren noch als besonders einfach und die Ausprägungen „männlich“ und „weiblich“ mit Bezug auf das biologische Geschlecht als unstrittig betrachtet. Heute wird es im Zuge der zunehmenden Anerkennung geschlechtlicher Vielfalt und konkurrierender Konzeptualisierungen von Geschlecht intensiv diskutiert. In diesem Beitrag wird der – durchaus umstrittene – status quo der exklusiven Erfassung des biologischen oder personenstandsrechtlichen Geschlechts dargestellt, da bislang noch kein Standard zur Erfassung der Geschlechtsidentität vorliegt. Das Geschlecht wird daher heute häufig mit einer Frage und den Antwortkategorien „männlich“, „weiblich“ und „divers“ erfasst. Auf mögliche Alternativen, die zwischen dem biologischen und personenstandsrechtlichen Geschlecht einerseits und der Geschlechtsidentität andererseits zu differenzieren versuchen, wird verwiesen.
Respondents’ sex is, together with age, the most important socio-demographic background variable and is therefore recorded in all studies. Until a few years ago, this variable was regarded as particularly simple, and the categories "male" and "female" relating to biological sex were indisputable in survey research in German-speaking countries. In the wake of the increasing recognition of the conceptual differences between sex and gender, as well as gender diversity, it is now the subject of intense debate. This article presents the - controversial - status quo of the exclusive recording of biological sex or sex according to civil status in German surveys, as there is no standard for recording gender identity yet. Sex is currently usually recorded with one question and the response categories male, female, and “divers”, corresponding to sex according to civil status in Germany. Reference is made to possible alternatives that attempt to differentiate between biological sex and sex according to civil status on the one hand and gender identity on the other.
In diesem Abschnitt wird zunächst das von den „Demographischen Standards“ (Hoffmeyer-Zlotnik et al., 2024) empfohlene Fragebogenitem zur Erhebung des (personenstandsrechtlichen) Geschlechts dargestellt. Die Demographischen Standards dienen der Vereinheitlichung der Stimuli bei der Erfassung soziodemographischer Merkmale mittels Fragebögen. Danach wird für dieses Merkmal eine Standardvariable vorgestellt, die über Datensätze hinweg konsistente Metadaten in Form standardisierter Variablennamen und -labels sowie Werte und Wertelabels spezifiziert. Soziodemographische Standardvariablen dienen der Vereinheitlichung soziodemographischer Variablen in Umfragedaten im Sinne einer Output-Harmonisierung. Standarditems und Standardvariablen ergänzen einander und haben zum Ziel, die Messung soziodemographischer Merkmale über Studien hinweg vergleichbar zu machen. Weitergehende Informationen zu soziodemographischen Standarditems und -variablen finden sich in Schneider et al. (2023).
Eine Standardfrage zur Erfassung anderer Geschlechtskonzepte, bspw. des biologischen Geschlechts oder der Geschlechtsidentität, gibt es in den Demographischen Standards bislang nicht. Daher wurde bisher auch keine entsprechende Standardvariable entwickelt. Auf diese Konzepte wird im Abschnitt „Theorie“ jedoch genauer eingegangen und entsprechende Literatur referenziert; zur Veränderung der Empfehlung in den Demographischen Standards über die Zeit s. auch Abschnitt „Entwicklung“ - „Konstruktion der Standarditems“.
1.1 Standard-Fragebogenitem
Das personenstandsrechtliche Geschlecht wird direkt durch eine Einzelfrage erfragt. Tabelle 1 zeigt die grundlegenden Eigenschaften dieses Fragebogenitems im Überblick:
Tabelle 1
Eigenschaften des Erhebungsinstruments für das Merkmal Geschlecht
Nr. |
Merkmal |
offen/halboffen/ geschlossen |
numerisch/ kategorial |
Antwortkategorien |
Antwortformat |
1 |
Geschlecht |
geschlossen |
kategorial |
3 |
Einfachantwort |
Tabelle 2 zeigt das in den Demographischen Standards (Hoffmeyer-Zlotnik et al., 2024, S. 45) empfohlene Fragebogenitem zur Erfassung des Geschlechts:
Tabelle 2
Item zur Erfassung des Geschlechts in den Demographischen Standards 2024
Nr. |
Frage |
|
1 |
Welches Geschlecht haben Sie? |
|
|
1: männlich |
❒ |
|
2: weiblich |
❒ |
|
3: divers |
❒ |
Die Frageformulierung selbst impliziert kein bestimmtes Konzept von Geschlecht (bspw. das personenstandsrechtliche Geschlecht, das biologische Geschlecht oder die Geschlechtsidentität; s. auch Abschnitt „Theorie“). Die Antwortkategorien und begleitenden Erläuterungen (Hoffmeyer-Zlotnik et al., 2024, S. 13–15) machen jedoch klar, dass das personenstandsrechtliche Geschlecht gemeint ist (s. Abschnitt „Konstruktion der Standarditems“). Das Merkmal Geschlecht ist auch im Standardfragenkatalog des RatSWD (Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten, 2023, S. 9) enthalten und die Abfrage entspricht der Empfehlung der Demographischen Standards 2024.
Kritische Diskussion der Standardfrage zum Geschlecht
Die meisten deutschen Studien erfragen aktuell nur „das Geschlecht“, ohne Qualifizierung der gefragten Dimension von Geschlecht (Schneider et al., 2022), mit höchstens implizitem Bezug auf das personenstandsrechtliche Geschlecht (zur Differenzierung unterschiedlicher Konzepte und Indikatoren von Geschlecht s. Abschnitt „Theorie“). Somit fragt die große Mehrzahl der Studien de facto nach dem „selbstberichteten“ Geschlecht, d.h. Befragte wählen selbst, welches Geschlechtskonzept für sie ausschlaggebend ist. Für manche Befragte ist die Frage nach dem Geschlecht nicht trivial, und sie würden, je nach Konzept, unterschiedliche Antworten geben. Die Frage ist somit nicht eindeutig, und entspricht damit nicht der grundlegenden Anforderung an Fragebogenitems, eindeutig zu sein (Döring, 2013; National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine, 2022). Im Zweifelsfall werden Befragte hier vermutlich ihre Geschlechtsidentität berichten, die in den meisten – aber eben nicht allen – Fällen mit dem biologischen und personenstandsrechtlichen Geschlecht übereinstimmt. Dies geht mit zwei Problemen einher: Einerseits geht dadurch die zuverlässige und valide Messung des biologischen Geschlechts verloren. Andererseits ist die Antwortkategorie „divers“, wenn sie denn ergänzt wird, nicht gut geeignet, um nicht-binäre Geschlechtsidentitäten zu erfassen (Diethold et al., 2023; Muschalik et al., 2021): Personen, die sich nicht den Kategorien „männlich“, „weiblich“ und „divers“ zuordnen wollen, da sie das personenstandsrechtliche Geschlecht als leitendes Geschlechtskonzept ablehnen, werden diese Frage ggf. nicht beantworten oder die Befragung sogar ganz abbrechen. Eine kritische Betrachtung der bisherigen Befragungspraxis findet sich z.B. in Döring (2013), Baumann et al. (2018), Muschalik et al. (2021), Diethold et al. (2023) und de Vries et al. (2024).
Zur differenzierten Erfassung des biologischen bzw. bei Geburt zugewiesenen Geschlechts und der Geschlechtsidentität gibt es bislang weder in den Demographischen Standards noch im RatSWD-Standardfragenkatalog eine Empfehlung. Baumann et al. (2018) reflektieren Entwicklungsmöglichkeiten der Geschlechtsabfrage und machen Vorschläge für ein erweitertes Item-Set. Das Projekt DIVERGesTOOL hat ein Set von drei „Basis-Items“ zur Erfassung des Geschlechts insbesondere für quantitative Gesundheitsstudien entwickelt und den Entwicklungsprozess umfangreich dokumentiert. Deren Validierung steht jedoch noch aus. Die Items sind sprachlich komplex und könnten z.T. als zudringlich und für Befragungen unangemessen betrachtet werden (s. auch Sullivan, 2025, S. 3). Diethold (2023) schlägt mehrere Varianten vor und testet sie an einer Gruppe von Befragten, in der trans*, inter* und sich nicht-binär identifizierende Personen über- und gering gebildete Personen unterrepräsentiert sind. Im angelsächsischen Raum wird das biologische Geschlecht (mit dem – nicht unumstrittenen – Indikator des „bei der Geburt zugewiesenen“ Geschlechts) zunehmend von der Geschlechtsidentität differenziert erfasst (2-Schritt-Methode). Dadurch werden Trans*-Personen sichtbar, ohne sich als transgeschlechtlich identifizieren zu müssen (National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine, 2022; Saperstein & Westbrook, 2020; Tate et al., 2013). Eine Überprüfung dieser Methode für Deutschland findet sich in Pöge et al. (2022) anhand der GEDA-Daten von 2019/2020 mit einer Stichprobe von über 20.000 Fällen. Die Fragen lauteten: „Welches Geschlecht wurde bei Ihrer Geburt in Ihre Geburtsurkunde eingetragen? 1. Männlich, 2. Weiblich“, und „Welchem Geschlecht fühlen Sie sich zugehörig? 1. Männlich, 2. Weiblich, 3. Oder einem anderen, und zwar:“ (Pöge et al., 2022, S. 58). Das SOEP setzt seit 2022 eine ähnliche zweischrittige Abfrage im Personenfragebogen ein, als Weiterentwicklung der zweistufigen Abfrage in Stichprobe Q von 2019 („LGB-Sample“, Kantar Public, 2020). De Vries et al. (2024) stellt den zweischrittigen Ansatz des SOEP genauer vor und vergleicht diesen mit zwei Instrumenten zur Erfassung der Geschlechtsidentität, die in online-Erhebungen zum Einsatz kamen. Intergeschlechtlichkeit wird durch die 2-Schritt-Methode jedoch nicht abgebildet (Pöge et al., 2022), und es gibt Bedenken, dass insbesondere Zugewanderte und jüngere Befragte Schwierigkeiten mit dieser Art der Abfrage des Geschlechts haben könnten (s. dazu auch Pöge et al., 2022, S. 63). Außerdem wird das biologische Geschlecht als biologisch-reproduktive Funktion nicht (quasi willkürlich) bei der Geburt zugewiesen, sondern zum Zeitpunkt der Befruchtung festgelegt (z.B. Kashimada & Koopman, 2010), so dass die Formulierung der Frage zum biologischen Geschlecht unnötig kompliziert ist. Sullivan (2025, S. 6–10) empfiehlt, daher eine einfache Frage zum biologischen Geschlecht bei Bedarf durch eine direkte Frage zur Geschlechtsidentität zu ergänzen. Für letzteres schlägt sie vor: „‘Are you’ [or ‘Do you identify as’ or ‘Do you consider yourself to be’] ‘transgender’ [or ‘trans’], non-binary or gender diverse?’, with response options: Yes, Trans woman/Yes, Trans man/Yes, Non-binary/Yes, Other, please specify if you wish [open text]/No/Don’t know/Prefer not to say.”, wobei diese Frage mit ihren Formulierungsalternativen noch genau zu testen wäre. Diese Formulierung erkennt an, dass der Begriff der Geschlechtsidentität für Personen gänzlich irrelevant sein kann.
Das Bewusstsein über geschlechtliche Vielfalt und darüber, dass die Frage nach dem Geschlecht unabhängig davon, wie sie gestellt wird, für einige Befragte eine sensible Frage ist, hat in der Umfrageforschung deutlich zugenommen. Viele Befragte unterscheiden nach wie vor nicht zwischen unterschiedlichen Geschlechtskonzepten, da ihr biologisches und personenstandsrechtliches Geschlecht und ihre Geschlechtsidentität identisch sind (cis-Geschlechtlichkeit); für diese Gruppe funktioniert das traditionelle oder um die Kategorie „divers“ erweiterte Standarditem gut. Laut Diethold et al. (2023) tendieren Trans*-, Inter* und nicht-binäre Befragte dazu, traditionelle (binäre) und am Personenstandsrecht orientierte Abfragen des Geschlechts abzulehnen. Dies zu ignorieren ist wissenschaftlich und ethisch problematisch. Umgekehrt lehnen Befragte, die von einer biologischen Eindeutigkeit des binären Geschlechts ausgehen, die Differenzierung zwischen biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität einerseits und geschlechtliche Diversität insgesamt z.T. kategorisch ab; auch kann die Mehrheit der Befragten die korrekte Bedeutung des Begriffs „divers“ nicht nennen (Hadler et al., 2022). Je nach Art der Frageauswahl und -formulierung kann es somit vermehrt zu Messfehlern (auch bei anderen Fragen als der zum Geschlecht) oder gar Befragungsabbrüchen kommen. Pöge et al. (2022) berichten, dass 13,8% aller (knapp über 1000) Befragungsabbrüche (bei über 23000 Befragten) bei der zweistufigen Geschlechtsabfrage auftraten. Dies kann jedoch auch daran liegen, dass diese Fragen die ersten Fragen des Interviews waren, gleich nach der informierten Einwilligung, wo die Abbruchraten mglw. unabhängig vom Frageinhalt hoch sind. Hadler et al. (2022) berichten in ihrer Studie mit einer nicht-zufallsbasierten Stichprobe über eine nur geringe Zahl an Abbrüchen bei der Verwendung der aktuell empfohlenen drei personenstandsrechtlichen Antwortkategorien, die eher am Ende des Fragebogens platziert waren. Einen Überblick über Möglichkeiten und Testungen alternativer Erhebungsinstrumente für das Geschlecht für Deutschland liefert de Vries et al. (2024).
Eine klare Empfehlung für oder gegen eine bestimmte Vorgehensweise ist also derzeit schwierig, da ethische Erwägungen und Erwägungen in Bezug auf Datenqualität und Erhebungspraxis zu gegenteiligen oder nicht umsetzbaren Empfehlungen führen können. Einerseits ist anzustreben, die verschiedenen Geschlechtskonzepte empirisch zu differenzieren. Dies gelingt am ehesten durch die 2-Schritt-Methode (Geschlecht bei Geburt und aktuelle Geschlechtsidentität) und erfordert keine Priorisierung von biologischem Geschlecht oder Geschlechtsidentität. Soll nur eine Frage gestellt werden sprechen sich manche Autorinnen für eine Priorisierung des biologischen Geschlechts (z.B. Sullivan, 2025) und andere für eine Priorisierung der Geschlechtsidentität (z.B. de Vries et al., 2024) aus. Andererseits wird das personenstandsrechtliche Geschlecht im Mikrozensus erhoben, welcher für viele Studien eine wichtige Referenzstichprobe darstellt und für Gewichtung und Hochrechnungen verwendet wird. Daher erheben inzwischen auch sozialwissenschaftliche Studien zunehmend das personenstandsrechtliche Geschlecht. Dieses Geschlechtskonzept ist jedoch gerade nicht dazu geeignet, das biologische Geschlecht und die Geschlechtsidentität sauber zu differenzieren (Sullivan, 2025): es misst weder das biologische bzw. bei der Geburt zugewiesene Geschlecht noch die Geschlechtsidentität. Alle drei Geschlechtskonzepte zu erheben, dürfte in vielen Kontexten zu einer Überfrachtung des Fragebogens führen und würde Personen mit Abweichungen zwischen den Konzepten (z.B. zwischen bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht und personenstandsrechtlichem Geschlecht) potenziell identifizierbar machen. GEDA ist den Kompromiss eingegangen, das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht für Gewichtungszwecke als äquivalent zum personenstandsrechtlichen Geschlecht zu betrachten; ähnlich argumentiert auch Sullivan (2025). Für die Vergleichbarkeit über die Zeit und zwischen Studien ist zu guter Letzt essenziell, dass das biologische (oder personenstandsrechtliche) Geschlecht als „Minimalitem“ in allen Studien erhoben wird.
1.1.1 Anpassungen an verschiedene Befragungsmodi
Das in den Demographischen Standards enthaltene Instrument zur Erfassung des Geschlechts wird für alle Befragungsmodi empfohlen. Die früher in persönlichen und telefonischen Befragungen geübte Praxis, das Geschlecht nicht zu erfragen, sondern von Interviewenden einschätzen zu lassen, wird heute als inakzeptabel betrachtet, da die Fremdeinschätzung von der Selbsteinschätzung abweichen kann (und dies gilt für alle Geschlechtskonzepte!) und Befragte der Klassifikation durch Interviewende nicht widersprechen können (Baumann et al., 2018; Westbrook & Saperstein, 2015). Befragte, für die das Geschlecht eine offensichtliche Gegebenheit darstellt, können jedoch irritiert reagieren, wenn ein*e Interviewer*in danach fragt, oder die Frage kann dem*der Interviewer*in selbst unangenehm sein. Hier kann eine leichte Umformulierung mit Begründung helfen, wie bspw. in GEDA 2009 (telefonische Befragung) praktiziert: „Erlauben Sie mir die Frage, sind Sie… Hinweis: Begründung: Die Frage nach dem Geschlecht ist wichtig, weil davon abhängt, welche Fragen nicht gestellt werden müssen/dürfen“ (zitiert nach Baumann et al., 2018, S. 93).
Daraus ergibt sich die Frage, ob bei Studien, die den Befragungsmodus von persönlich auf selbst-administriert wechseln, eine Äquivalenz der Messung des Geschlechts über die Zeit gegeben ist, wenn in früheren persönlichen Befragungen das Geschlecht vom Interviewenden „beobachtet“ und nicht von den Befragten selbst angegeben wurde (Westbrook & Saperstein, 2015).
1.1.2 Anpassung für internationale Umfragen
Auch international hat die Messung des Geschlechts – zusammen mit dem Alter – den höchsten Stellenwert, da das Geschlecht den Kontext für alle anderen, klassischerweise erhobenen Aspekte wie z.B. Bildung, ökonomische Aktivität, Migration, Familienstand, Wohnsituation und körperliche Beeinträchtigungen liefert (United Nations, 2017, S. 199). In einzelnen Kulturen und Ländern gibt es auch schon länger nicht-binäre Geschlechtskategorien (Bureau of the Conference of European Statisticians, 2019; Diethold et al., 2023). Eine Differenzierung der in Deutschland etablierten Kategorie „divers“ bzw. eine entsprechende Kategorie für intersexuelle Befragte ist international (noch) nicht absehbar. So sehen die „Key social variables“ der Europäischen Union bislang nur die Kategorien „männlich“ und „weiblich“ vor (European Commission, 2020, S. 5), wobei auch die internationale amtliche Statistik über die Konzeptualisierung und Messung von Geschlechtsidentität diskutiert und zu folgender Zusammenfassung kommt: „The topic is very important but sensitive and difficult both conceptually and statistically. The challenge is to collect data on a community which is very little understood. The community needs to be identified and categories defined, while the terms used by the community itself remain fluid. The topic is also statistically difficult because groups are small and false responses can create a large variance, particularly in self-completed questionnaires. […] The topic is evolving, and it is necessary to keep following the developments and sharing experiences in this area.“ (Bureau of the Conference of European Statisticians, 2019, S. 13).
In Runde 11 (2023/2024) des European Social Survey kommen in einem eigenen Modul zum Thema Geschlecht folgende Fragen zur Geschlechtsidentität, zusätzlich zur binären Kodierung des Geschlechts im Demographieteil des Fragebogens, in persönlichen Interviews zum Einsatz: 1. „Which of the options on this card best describes you? (I am) A man, A woman, Other (TYPE IN)“; 2. „Overall, how masculine would you say you feel?” 3. “Overall, how feminine would you say you feel?” (European Social Survey, 2022). Wie Baumann et al. (2018) feststellt, befindet sich „die Sichtbarkeit von Geschlechtervielfalt im Rahmen internationaler Surveyforschung … derzeit insgesamt in einer explorativen Phase“ (S. 94).
1.1.3 Anwendungsbereich
Das hier vorgestellte Fragebogenitem ist für die Erfassung des personenstandsrechtlichen Geschlechts aller Befragten und für jeden Befragungsmodus gedacht. Befragungen, die das biologische Geschlecht und/oder die Geschlechtsidentität erfassen wollen, müssen andere oder zusätzliche Indikatoren einsetzen. Die Frage, ob die alleinige Erfassung des personenstandsrechtlichen Geschlechts für die Zwecke einer Studie sinnvoll ist, muss sich jede Studie kritisch stellen (s. dazu auch der Abschnitt „Theorie“).
1.2 Standardvariable
Um die Variable Geschlecht über Studien und Zeitverlauf hinweg einheitlich benennen, kodieren und damit besser zusammenführen und vergleichen zu können, wurde eine Standardvariable entwickelt. Tabelle 3 zeigt deren Variablennamen, -label und -formate. Diese Variable orientiert sich, wie das oben dargestellte Standarditem, am personenstandsrechtlichen Geschlecht. Da sich dieses stark am biologischen Geschlecht anlehnt ist das Codeschema auch auf das bei der Geburt zugewiesene Geschlecht anwendbar; wurde beides erhoben, soll hier das personenstandsrechtliche Geschlecht kodiert werden.
Tabelle 3
Spezifikation der Standardvariable Geschlecht
Variablenname |
Variablenlabel DE |
Variablenlabel EN |
Format |
Version |
x_sex |
Geschlecht |
Sex |
numerisch |
1.0 |
Tabelle 4 zeigt das Codeschema für die Standardvariable x_sex und deren Zuordnung zu den Geschlechtskategorien der Demographischen Standards 2024 (Hoffmeyer-Zlotnik et al., 2024). Da die Kategorie „divers“ noch nicht lange und auch noch nicht in allen Studien angeboten wird, sollen Studien, die die Standardvariable x_sex herleiten, in der Dokumentation beschreiben, welche Antwortkategorien im Fragebogen angeboten wurden, ob bei persönlichen oder telefonischen Interviews die Zuordnung durch Interviewende oder Befragte vorgenommen wurde, sowie ob die Frage ein konkretes Geschlechtskonzept nahegelegt hat.
Tabelle 4
Codeschema für die Standardvariable x_sex und Zuordnung zu Antwortmöglichkeiten der Demographischen Standards
Standardvariable x_sex, , Version 1.0 |
Demographische Standards 2024 |
||||
Wert |
Wertelabel DE |
Wertelabels EN |
Frage |
Wert |
Antwortkategorie |
1 |
männlich |
male |
1 |
1 |
Männlich |
2 |
weiblich |
female |
1 |
2 |
Weiblich |
3 |
divers |
“divers” |
1 |
3 |
Divers |
4 |
kein Eintrag im Personenstandsregister |
no entry in register |
|
|
[nicht angeboten] |
Das Schema lässt sich in maschinenlesbarer Form hier herunterladen. Ebenso ist eine maschinenlesbare Verknüpfung des Schemas mit den entsprechenden Kategorien der Demographischen Standards 2024 (Hoffmeyer-Zlotnik et al., 2024), des ALLBUS 2021 (GESIS-Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften, 2023) und des Mikrozensus 2020 (GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften et al., 2023) zum Download hier verfügbar.
1.2.1 Auswertungshinweise
Die Kategorien von x_sex können in Dummy-Variablen überführt werden, die dann als unabhängige Variablen in Regressionsmodellen oder als Gruppierungsvariable genutzt werden können. Aufgrund geringer Fallzahlen in den Kategorien „divers“ und „kein Eintrag im Personenstandsregister“ kann es sinnvoll sein, diese Fälle zufällig einer der beiden anderen Kategorien hinzufügen. Diese Praxis wird in der amtlichen Statistik bei gegliederten Darstellungen, für die die Fallzahlen in der Kategorie „divers“ zu niedrig sind, sowie im Scientific Use File des Mikrozensus, genutzt (GESIS - Leibniz-Institut für Sozialwissenschaften et al., 2023; Statistische Ämter des Bundes und der Länder, 2023). Es ist generell zu erwarten, dass diese Kategorien aus Gründen der Anonymisierung in publizierten Datensätzen nicht ohne Zugangsrestriktionen verfügbar sein werden (Bureau of the Conference of European Statisticians, 2019). x_sex kann dann als binäre Variable genutzt werden. Dies läuft dem Interesse, nicht-binäre Personen in sozialwissenschaftlichen Daten sichtbar zu machen, jedoch entgegen. Wünschenswert wäre daher, dass zumindest die Anzahl der Befragten, die „divers“ oder „kein Eintrag im Personenstandsregister“ gewählt haben und auf andere Kategorien verteilt wurden, berichtet wird.
Die Hauptgründe für die Erhebung des Geschlechts in Umfragen sind (a) die Beschreibung der Stichprobenzusammensetzung; (b) die Verwendung von Geschlecht als Filtervariable, so dass einige Fragen nur von Befragten eines bestimmten Geschlechts beantwortet werden; (c) die Nutzung von Geschlecht als Kontrollvariable und schließlich (d) als theoretisch relevante Variable für Hypothesentests, insbesondere zu Geschlechtsungleichheiten und der Benachteiligung von Frauen (Döring, 2013). Während früher das Geschlecht als eindeutiges, naturgegebenes, beobachtbares und zeitstabiles Merkmal betrachtet wurde und entsprechend in Umfragen durch eine einfache Frage („Welches Geschlecht haben Sie?“) mit zwei Antwortmöglichkeiten („männlich“, „weiblich“) oder durch „Beobachtung“ durch Interviewende erfasst wurde, wird heute weitgehend anerkannt, dass Geschlecht ein mehrdimensionales Konstrukt ist (Döring, 2013). Weiterhin wird jedoch auch dafür plädiert, an der Binarität des biologischen Geschlechtsbegriffs festzuhalten, da die Argumente für die Berücksichtigung von Intersexualität bzw. „Differences of Sex Development“ (DSD) als drittem Geschlecht Betroffene von DSD instrumentalisieren würden (Sullivan, 2025, S. 3). Aber auch dann muss eine Person sich nicht mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren oder ihr Leben lang das gleiche (soziale) Geschlecht haben. Im Folgenden werden verschiedene Geschlechtsdimensionen und -indikatoren kurz dargestellt. Für die Beantwortung unterschiedlicher Forschungsfragen kann der Fokus auf ein spezifisches Geschlechtskonzept relevant sein (Diethold et al., 2023). In großen Befragungen ist das Geschlecht typischerweise jedoch ein „multi-purpose-Item“.
Das biologische Geschlecht (engl. sex) ist „a multidimensional construct based on a cluster of anatomical and physiological traits (sex traits)”, darunter “external genitalia, secondary sex characteristics, gonads, chromosomes, and hormones” (National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine, 2022, S. 3). Für das biologische Geschlecht lassen sich (mindestens) zwei empirische Indikatoren differenzieren, die über die Zeit konstant sind:
Dem biologischen Geschlecht steht das soziale Geschlecht (engl. „gender“) gegenüber, wobei es hilfreich ist, darüber hinaus zwischen dem sozialen Geschlecht und der Geschlechtsidentität zu unterscheiden (Sullivan, 2023): Soziologisch gesehen ist das soziales Geschlecht im Sinne von “gender” „a social structure which affects people according to their sex. On this definition, individuals do not have a gender as such, but we need to know their sex in order to understand how gendered roles and power structures affect their lives” (Sullivan, 2023, S. 8). Geschlechtsidentität im Gegensatz dazu „relates to an individual subjective perception of self which may clash with one’s sex“ (Sullivan, 2023, S. 7). Die englischsprachigen Begriffe „sex“ und „gender“ werden im Deutschen beide mit “Geschlecht” übersetzt. Daher wird im Deutschen noch seltener als im Englischen zwischen den beiden Konzepten differenziert (s. auch Sullivan, 2025). Der Begriff der „Geschlechtsidentität“ lässt sich im Gegensatz dazu in beiden Sprachen abgrenzen.
Bei transgeschlechtlichen Menschen weicht das biologische bzw. bei der Geburt zugewiesene Geschlecht von der Geschlechtsidentität ab (Bureau of the Conference of European Statisticians, 2019; National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine, 2022, S. 4). Demgegenüber fühlen sich manche Menschen weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht (permanent) zugehörig, d.h. sie haben eine „nicht-binäre“ Geschlechtsidentität. Dabei gibt es verschiedene Vorstellungen und Begriffe, die diese Personen zur Selbstbeschreibung nutzen (z.B. „genderqueer“ oder „genderfluide“) welche sich ändern und dadurch schwerlich standardisiert gemessen werden können (Sullivan, 2023).
Zur Messung der Geschlechtsidentität gibt es entsprechend unterschiedliche Vorschläge (s. z.B. de Vries et al., 2024; Gidengil & Stolle, 2020), bspw. die Selbstkategorisierung aufgrund des Gefühls der Zugehörigkeit zu einer Geschlechtsgruppe, oder Geschlechtsidentität als Set an Persönlichkeitsmerkmalen entlang der gradualen Dimensionen „Maskulinität“ und „Femininität“ (Wood & Eagly, 2015). Letzteres wird auch als Geschlechtsausdruck („gender expression“) von der Geschlechtsidentität differenziert. Dieser beschreibt, wie Menschen ihre Geschlechtsidentität anderen Menschen gegenüber signalisieren, insbesondere durch geschlechtsrollen(non)konformes Verhalten, bspw. in Aussehen und Kleidung (Becker et al., 2017; Garbarski, 2023). Der Geschlechtsausdruck wird noch seltener in Studien erhoben als die Geschlechtsidentität.
Das personenstandsrechtliche (d.h. im Geburtenregister eingetragene, aktuell juristisch gültige) Geschlecht entspricht zunächst dem zum Zeitpunkt der Geburt anhand der physischen Geschlechtsmerkmale zugewiesenen Geschlecht. Dieser Eintrag lässt sich jedoch später ändern, z.B. weil das zugewiesene Geschlecht nicht der Geschlechtsidentität entspricht. Eine Änderung des personenstandsrechtlichen Geschlechts erforderte bis 2024 die (umstrittene) medizinische Feststellung einer sogenannten „Variationen der Geschlechtsentwicklung“ (s. dazu auch Antidiskriminierungsstelle des Bundes, 2023); seit 2024 wurde dies durch das „Gesetz über die Selbstbestimmung in Bezug auf den Geschlechtseintrag vom 19. Juni 2024" (SBGG, 2024) deutlich vereinfacht. Personen, die ihren Eintrag im Geburtenregister haben ändern lassen, wissen das, und könnten in einer Befragung entsprechende Angaben machen. Für alle anderen könnte ein Verweis auf das personenstandsrechtliche Geschlecht oder „Geschlecht laut Geburtenregister“ (wie im Mikrozensus-Fragebogen seit 2021) eine unnötige Verkomplizierung darstellen.
Da Kinder nach ihrem bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht wahrgenommen und „erzogen“ (und mglw. benachteiligt) werden, hat der Indikator des bei der Geburt zugewiesenen Geschlechts eine hohe Relevanz, wenn es um Aspekte der (Geschlechtsrollen-)Sozialisation und Gleichstellung zwischen Männern und Frauen geht (National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine, 2022; Sullivan, 2023). Es ist auch, außer für intersexuelle Menschen, der beste Indikator für das biologische Geschlecht, wenn eine Studie biologische und medizinische Unterschiede zwischen Männern und Frauen in den Blick nimmt. Hier dient die Frage nach dem Geschlecht auch der Filterführung im Fragebogen. Das personenstandsrechtliche Geschlecht kann bei Befragten, die ihren Geschlechtseintrag haben ändern lassen, zu Problemen bei der Filterführung führen, wenn ein Teil des Fragebogens sich beispielsweise nur an Frauen im Sinne von potenziell gebärfähigen Personen richtet. Wenn nur eine Frage gestellt und nicht zwingend das biologische Geschlecht erfasst werden soll, ist das personenstandsrechtliche Geschlecht eindeutiger als eine unspezifizierte Geschlechtsfrage und erlaubt einen Vergleich der Stichprobe mit amtlichen Daten, z.B. dem Mikrozensus. Die Kategorie „divers“ wird hier jedoch vermutlich auch von Personen ausgewählt, die sich aufgrund ihrer Geschlechtsidentität nicht den binären Kategorien zuordnen wollen (dies könnte im Mikrozensus jedoch auch der Fall sein).
Die Geschlechtsidentität ist zu guter Letzt das relevanteste Geschlechtskonzept, wenn es um das aktuelle Erleben und Verhalten der Menschen geht, sowie um überhaupt Inkonsistenzen zwischen biologischem bzw. bei der Geburt zugewiesenem Geschlecht und Geschlechtsidentität (Transgeschlechtlichkeit) feststellen zu können. Entsprechend wird argumentiert, dass die Geschlechtsidentität in nicht-gesundheitswissenschaftlichen Bevölkerungsbefragungen wichtiger zu erfassen ist als das biologische Geschlecht (National Academies of Sciences, Engineering, and Medicine, 2022, S. 47):
„Most population surveys that are not focused on collecting health-related information include topics that represent the social and behavioral aspects of an individual’s life, which suggests that gender, rather than sex traits, is more relevant for understanding these outcomes in the population. Even in surveys that collect health-related information, this information is generally collected to assess health and health disparities in the population, as well as the role played by interpersonal and structural determinants of health. Therefore, the more important measures to gather in these surveys are those associated with proximal and distal minority stressors: gender identity, transgender experience and identity, intersex status, and sexual orientation.“
Diese Argumentation vernachlässigt jedoch, dass auch die (biologische) Geschlechtskategorie „weiblich“ einen Minoritätenstatus hat, insofern dass Mädchen und Frauen historisch und in manchen Lebensbereichen und Kontexten (insbesondere auch in der medizinischen und pharmazeutischen Forschung) auch heute noch substanziell benachteiligt werden (s. unten): „This attempt to minimise the importance of sex as a sociological variable ignores the fact that gendered social structures affect people according to their sex. […] If men and women are treated differently according to their sex, we cannot capture this difference without data on sex” (Sullivan, 2023, S. 9). Die Herausforderung besteht daher auch darin, verschiedene benachteiligte Gruppen nicht gegeneinander auszuspielen, wenn es um die Sichtbarmachung ihrer Benachteiligung geht. Sullivan (2023, 2025) argumentiert daher, dass das biologische Geschlecht standardmäßig erhoben werden soll, während die Geschlechtsidentität zusätzlich in den Kontexten erhoben werden soll, wo diese eine eigene Relevanz hat.
Auch in Anbetracht der Tatsache, dass das Geschlecht eine wichtige Gewichtungsvariable darstellt, sind unterschiedliche Geschlechtskonzepte und -indikatoren zwischen verschiedenen wissenschaftlichen Studien und amtlicher Statistik problematisch. Der Umfang des Problems hängt in der Praxis davon ab, bei wie vielen Fällen die verschiedenen Indikatoren zu unterschiedlichen Antworten führen, worüber zum jetzigen Zeitpunkt noch keine ausreichenden Erkenntnisse vorliegen. GEDA 2019/2020 verwendet die Frage nach dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht zur Gewichtung (Pöge et al., 2022), betrachtet diese also als äquivalent zur Frage nach dem personenstandsrechtlichen Geschlecht, da nur wenige Personen ihren Geschlechtseintrag ändern lassen. Dies könnte sich jedoch mit der Einführung des SBGG (SBGG, 2024) mittel- bis langfristig ändern.
Kommen wir nun nach diesen konzeptuellen Überlegungen zu einer (knappen) Betrachtung der Forschung zu Geschlechtsunterschieden. In der Forschung zur Ungleichheit zwischen Männern und Frauen ist das Geschlecht die zentrale Variable, wobei der Geschlechtsbegriff häufig unbestimmt bleibt. Ungleichheit zwischen Männern und Frauen wird in einer Vielzahl von Forschungsfeldern bearbeitet (Jayachandran, 2015; Ponthieux & Meurs, 2015; Sen, 2001): z.B. im Bereich der Bildung (Charles, 2011; Jacobs, 1996), der Erwerbstätigkeit (Beckmann, 2003), Berufswahl und -segregation (Kleinert & Schels, 2020), des „gender wage gap“ (Caliendo & Wittbrodt, 2022; Kunze, 2018; Reimer & Schröder, 2006; Weichselbaumer & Winter-Ebmer, 2005), des Alterseinkommens (Frommert & Strauß, 2013; Möhring & Weiland, 2018), der häuslichen Arbeitsteilung und unbezahlten Care-Arbeit (Bauer et al., 2016; Haupt & Gelbgiser, 2023), und der Gesundheit (Robert Koch-Institut, 2020). Geschlechtsungleichheiten werden unterschiedlich begründet. Dabei spielen unmittelbar biologische oder medizinische Unterschiede zwischen Männern und Freuen in sozialwissenschaftlichen Erklärungen für Geschlechterunterschiede eine untergeordnete Rolle. Vielmehr werden Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern auf durch die in (post-)industriellen Gesellschaften typische geschlechtsspezifische Arbeitsteilung bedingten Unterschiede in der Geschlechtsrollensozialisation und den später eingenommenen Geschlechtsrollen sowie damit verbundene Zuschreibungen zurückgeführt. Diese wirken sich auch auf die Persönlichkeit, Einstellungen und Verhaltensweisen aus (Hradil, 2006, S. 275). Außerdem üben soziale Gelegenheitsstrukturen und sozial- und familienpolitische Regelungen Einfluss auf das Entscheidungsverhalten von Männern und Frauen aus. Unterschiede zwischen den (biologischen) Geschlechtern werden daher soziokulturell erklärt („Sex differences … require gendered explanations“, Schneider & Bos, 2019, S. 183). Cassino (2020) berichtet über Studien, in denen die Geschlechtsidentität eine höhere Erklärungskraft hat als das (biologische) Geschlecht, und spricht sich daher für eine separate Messung des biologischen Geschlechts und der Geschlechtsidentität und eine theoretische und empirische Differenzierung des „gender gaps“ vom „sex gap“ aus. Es ist jedoch unklar, ob eine empirische Differenzierung bei den erwartbar engen Zusammenhängen zwischen „sex“ und „gender“ überhaupt möglich ist: in GEDA 2019/2020 stimmt bei etwas über 99% der Befragten die Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht überein (Pöge et al., 2022, S. 60), was jedoch auch an der geringeren Bereitschaft sexueller Minderheiten an einer Studienteilnahme liegen kann.
In Bezug auf Unterschiede zwischen Personen unterschiedlicher Geschlechtsidentitäten liegt erwartungsgemäß weniger Evidenz vor, da Geschlechtsidentität selten in großen Bevölkerungsstudien erhoben wird. Eher gibt es Ergebnisse zu Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen sexuellen Minderheiten, die breiter definiert werden als Personen mit nicht-binärer Geschlechtsidentität oder Trans*-Personen, und welche Personen mit homo- und bisexueller Orientierung einbezieht. Flores et al. (2022) berichten auf die USA bezogen höhere Gewalterfahrungen von lesbischen, schwulen, bisexuellen und transgeschlechtlichen (LGBT) Personen. In Europa berichtet ein großer Anteil der LGBTI-Personen (mit I für intersex) von Belästigung, Diskriminierung und Gewalterfahrungen (Fundamental Rights Agency (FRA), 2020), wobei eine Vergleichsgruppe leider fehlt. In letzterem Bericht werden die Ergebnisse für intersex-Personen (n = 1,519) auch getrennt von den anderen Gruppen ausgewiesen. Bei trans- und intersex-Personen entstehen negative Erfahrungen häufig in Situationen, in denen diese sich ausweisen müssen. Die Tatsache, dass die sexuelle Orientierung ein häufiges Diskriminierungsmerkmal ist, erinnert uns daran, dass diese eine weitere in der sozialwissenschaftlichen Forschung unterreflektierte Ungleichheitsdimension darstellt.
3.1 Konstruktion der Standarditems
In der „ZUMA-Standarddemographie“ (Pappi, 1979, Anhang A) war bereits ein Vorschlag zur Erfassung des Geschlechts enthalten. Dieser wurde für die erste Version der Demographischen Standards (Ehling et al., 1992) leicht angepasst übernommen, wobei das „Geschlecht der Zielperson“ durch Interviewende erfasst wurde. Der historischen Praxis folgend war damit zunächst das biologische Geschlecht gemeint (so auch die Demographischen Standards bis zur Version von 2010, Hoffmeyer-Zlotnik et al., 2010). Seit den Demographischen Standards 2016 (Hoffmeyer-Zlotnik et al., 2016) ist das personenstandsrechtliche Geschlecht gemeint und es wird (zumindest implizit) empfohlen, dass Zielpersonen ihr Geschlecht selbst angeben und selbiges nicht mehr durch Interviewende „beobachtet“ wird. Eine Antwortoption „kein Eintrag im Personenstandsregister“, die der Tatsache Rechnung trägt, dass seit 2013 kein Eintrag im Personenstandsregister mehr vorgenommen werden muss (s. auch Schweizer et al., 2019) und die im Mikrozensus seit 2020 angeboten wird, fehlt in den Demographischen Standards 2016 und 2024. Die Kategorie „divers“ (nach dem „Gesetz zur Änderung der in das Geburtenregister einzutragenden Angaben“, 2018) wurde in der Version von 2024 ergänzt. Bis einschließlich 2016 entspricht das empfohlene Fragebogenitem daher der früheren Frage nach dem biologischen Geschlecht.
Der Mikrozensus fragt seit 2021 explizit nach dem personenstandsrechtlichen Geschlecht: „Welches Geschlecht (nach Geburtenregister) haben Sie?“, mit den Antwortoptionen „divers“ und „kein Eintrag im Personenstandsregister“ zusätzlich zu „männlich“ und „weiblich“. Der Bezug auf das Geburtenregister könnte Befragte, insbesondere Zugewanderte, die den Begriff des Geburtenregisters nicht kennen, verwirren. In anderen Ländern gibt es auch andere personenstandsrechtliche Kategorien, für die es in einem am deutschen Personenstandsrecht orientierten Fragebogenitem keine passende Antwortmöglichkeit gibt (Diethold et al., 2023).
3.2 Konstruktion und Selektion der Standardvariablen
Die Standardvariable für Geschlecht wurde 2022/2023 im KonsortSWD-Teilprojekt TA3-M1 „Harmonized Variables – Umfragedaten leichter kombinieren durch standardisierte und harmonisierte Variablen“ entwickelt. Sie spezifiziert alle aktuell gültigen Kategorien des personenstandsrechtlichen Geschlechts, in die auch vorhandene (v.a. ältere) Daten mit nur zwei Kategorien, orientiert am biologischen Geschlecht ohne Berücksichtigung eines uneindeutigen Geschlechts, kodiert werden können. Da bisher nur wenige große Bevölkerungsstudien die Geschlechtsidentität erfragen und zu entsprechenden Fragebogenitems noch keine ausreichend geprüften Empfehlungen vorliegen wurde hierzu (noch) keine Standardvariable entwickelt.
4.1 Objektivität
Im Allgemeinen führen Standarditems und Standardvariablen zu einer Erhöhung der Durchführungs- und Auswertungsobjektivität – vor allem über verschiedene Studien hinweg. So tragen Standarditems durch die Standardisierung der Frage(n) selbst zu einer standardisierten Durchführung von Befragungen bei. Standardvariablen führen durch ihr vorgegebenes Codeschema zu einer objektiven Auswertung. Zusammengefasst erhöhen die vorgestellten Standarditems und Standardvariablen die Unabhängigkeit der Messung des (personenstandsrechtlichen) Geschlechts von den spezifischen Forschenden.
Bei dem Merkmal Geschlecht handelt es sich je nach Geschlechtskonzept um ein biologisches, rechtliches oder ein identitätsbezogenes (d.h. subjektives) Merkmal. Da Fragebögen meist nicht genauer spezifizieren, welches Konzept gefragt ist, lebensweltlich die Geschlechtsidentität aber für Befragte wichtiger sein dürfte als ein davon möglicherweise abweichendes bei der Geburt aufgrund physiologischer Merkmale zugewiesenes Geschlecht, ist davon auszugehen, dass Befragte eher ihre Geschlechtsidentität berichten. Dies vermag sich auch über den Zeitverlauf verändern.
4.2 Reliabilität
Da soziodemographische Merkmale typischerweise mit nur einem Item pro Merkmal gemessen werden, sind psychometrische Verfahren zur Reliabilitätsschätzung nicht anwendbar. Eine Einschätzung der Reliabilität über Test-Retest-Verfahren ist prinzipiell möglich, wird aber nur selten durchgeführt (s. bspw. Porst & Zeifang, 1987). Porst und Zeifang berichten für das Geschlecht, dass 99.4% der Befragten über Befragungswellen hinweg konsistente Antworten gaben, was für eine hochgradig zuverlässige Messung spricht (ebd. S. 195). Pöge et al. (2022, S. 60) berichten, dass in GEDA 2019/2020 bei etwas über 99% der Befragten die Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.
4.3 Validität
Da es für die Standardvariable Geschlecht auf Basis der aktuell erhobenen Daten, die nur eine Frage nach dem (selbstberichteten) Geschlecht stellen, nicht möglich war, konkurrierende Versionen zu entwickeln, erfolgte auch keine Validierung. Aufgrund des engen Zusammenhangs zwischen biologischem Geschlecht und Geschlechtsidentität ist auch statistisch nicht von einer guten Differenzierbarkeit beider Konzepte auszugehen.
4.4 Nebengütekriterien
Die Empfehlung der Demographischen Standards (Hoffmeyer-Zlotnik et al., 2016) für ein Fragebogenitem zur Erhebung des Geschlechts wurde von Lenzner et al. (2019, S. 14 ff.) kognitiv gepretestet. Da zu diesem Zeitpunkt absehbar war, dass es eine dritte Geschlechtskategorie geben wird, wurden in diesem Pretest, abweichend von den Demographischen Standards, verschiedene Varianten der Fragestellung und der Antwortkategorien getestet. Festgehalten werden konnte, dass die derzeitige Formulierung der Frage „Welches Geschlecht haben Sie?“, gegenüber einer Alternative „Mit welchen Geschlechtseintrag sind Sie beim Meldeamt gemeldet?“ von den Teilnehmenden präferiert wird, weil sie deutlich einfacher ist. Ebenso wurden verschiedene Möglichkeiten für die Formulierung einer dritten Geschlechtskategorie getestet, da die Kategorie „divers“ zu Beginn des Pretests noch nicht festgelegt war. Da sich keine Vorteile der getesteten Alternativen „intersexuell“ und „anderes“ zeigten, und „anderes“ negativ im Sinne von „abweichend von der Norm“ verstanden werden kann (Griffith et al., 2017), wurde die Nutzung der Kategorienbezeichnung „divers“ empfohlen (vgl. ebd.). Insbesondere wurde der Begriff „intersexuell“ von einigen Testpersonen als Ausprägung der sexuellen Orientierung fehlinterpretiert.
4.5 Danksagung
Die Entwicklung der soziodemographischen Standardvariablen und Erarbeitung dieses ZIS-Eintrags wurde durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG), Projektnummer 442494171, finanziert. Ich danke Lennart Palm und Sarah Müller für ihre Vorarbeiten zu diesem Dokument. Außerdem danke ich Insa Bechert, Dorothée Behr, Ivet Solanes Ros (alle GESIS) und Verena Ortmanns (DIE) herzlich für ihr Feedback zu einer früheren Version dieses Beitrags.